Bericht aus Sid: Nächtliche Push-Backs und politischer Protest

Sid, 28.02.16

Von Kroatien sind wir nach Sid auf der serbischen Seite der Grenze gefahren, um uns einen eigenen Eindruck von der unübersichtlichen Situation zu machen. Als wir versuchten das Camp zu betreten, erklärte uns eine Frau von einem serbischen Sicherheitsdienst, dass wir ohne eine behördliche Registrierung als Volunteer in Serbien kein einziges Camp betreten dürften und schickte uns fort.

Vor dem Eingang kamen wir mit ca. sieben Menschen aus dem Iran ins Gespräch. Einer von ihnen hat schon einige Jahre in Deutschland gelebt und wir konnten uns sehr gut mit ihm auf Deutsch unterhalten. Er konnte für die anderen übersetzen und erzählte viel von sich. Um mehr Privatsphäre zu haben, setzten wir uns ein paar Schritte weiter hin und kochten Kaffee. Im Folgenden geben wir wieder, was uns die Männer über die Situation im Camp und ihren Fluchtweg erzählt haben.

Situation im Camp

In Sid sind im Moment dauerhaft ca. 500 Leute verschiedenster Nationalität. Es gibt kein warmes Essen oder warme Getränke, sondern nur Dosenthunfisch oder Kekse und jeden Tag dasselbe. Für alle gibt es nur drei Duschen mit meistens kaltem Wasser und insgesamt schlechte hygienische Zustände.

Viele Menschen sitzen dort fest, weil sie nicht die “richtigen” Papiere haben. Nach der neuen Regelung von letzter Woche können nur noch Menschen aus dem Irak und Syrien mit einem Passdokument mit biometrischem Bild passieren. Das einzige gültige Registrierungspapier wird in Gevgelia (Mazedonien) ausgestellt und unterwegs an den unterschiedlichen Punkten des legalen Fluchtkorridors abgestempelt. Viele Menschen besitzen dieses Dokument nicht, weil es zum Zeitpunkt ihres Grenzübertritts einfach noch nicht existierte. In Sid sitzen also auch viele Syrer*innen, Afghaninn*en etc, fest – also Menschen, die vorher legal weiterreisen konnten. Unter ihnen sind auch viele Familien mit Kindern.

Grenzerfahrungen

Unsere Gesprächspartner sitzen schon mind. 10 Tage im Camp fest, weil sie nicht nach Kroatien einreisen dürfen und bei Versuchen, die Grenze auf eigene Faust zu überqueren, immer wieder nach Serbien zurück gepusht wurden. Es habe bei anderen Versuchen, die kroatische Grenze zu überqueren, auch schon Verletzte und Tote gegeben. Teilweise konnten es Personen bis nach Slowenien schaffen, wurden aber wieder nach Serbien zurückgepusht. Mittlerweile versuchen viele Menschen auch wieder, zu Fuß über die ungarische Grenze zu kommen, auch wenn sie wissen, dass die Polizei und die Lage dort für Refugees sehr gefährlich ist.

Push-Backs

Eine Praxis Flüchtende von Serbien nach Mazedonien zurückzudrängen ist es, die Menschen zu überzeugen, in Busse einzusteigen, die angeblich nach Österreich oder Slowenien fahren. Tatsächlich fahren die Busse zurück nach Mazedonien. Die Iraner zeigten sich empört über die Lügen der serbischen Beamt*innen.

Außerdem finden immer wieder überraschend nächtliche Push-Backs statt. Frauen, Männer und Kinder werden mit körperlicher Gewalt und Schlägen in Busse geprügelt und nach Mazedonien zurückgepusht. Die Männer erklärten uns, dass sie in Kleidung und Schuhen schlafen und abwechselnd Wache halten, um beim Geräusch des Busses über das Zimmerfenster das Camp verlassen zu können. Sie verbringen dann die Nacht im Wald und kommen morgens wieder.

Mafia profitiert von Grenzschließungen

Auf dem Weg hat jede der Personen riesige Summen (teilweise über 5000 Euro) an Schmuggler gezahlt, ohne Sicherheit die verhandelte “Leistung” auch zu erhalten. In Mafiahänden befindet sich nicht nur die Organisation illegaler Transporte, sondern auch sonstige Infrastruktur wie Dokumentenfälschung oder Bankgeschäfte. Daraus ergibt sich ein riesiges Geschäftsfeld, das unter der Grenzabschottung und den zunehmenden Pushbacks weiter aufblüht.

Die Menschen, mit denen wir sprachen, wünschten sich, dass ihre Situation auch in Deutschland bekannt wird, weshalb wir auch Videos von Teilen des Gesprächs aufzeichneten.

Politischer Protest der Menschen in Sid

Gegen Ende unseres Gespräches hörten wir Rufe und Sprechchöre. Vor dem Ausgang des Camps, auf der Innenseite des Zauns, hatte sich ein Protest gebildet von ca. 150 Menschen verschiedener Nationalitäten, darunter sehr viele Kinder. Sie hielten Schilder und riefen Slogans, u. a. “Open Border”, “We are Syrian”, “We are Afghan”, “We are Kurdi”, “We are Iraqi”, “We are people”, “We need to pass”, “Croatia open border” und viele weitere. Immer wieder waren auch Schilder zu sehen, die sich direkt an Deutschland oder Angela Merkel wandten. Auf der anderen Seite des Zauns standen Polizei und Security, die halbherzig versuchten, uns und ein paar Journalist*innen wegzuschicken.

Dieser lautstarke und energiereiche Protest hat uns emotional stark berührt. Wir standen den Menschen gegenüber, auf der anderen Seite des Absperrgitters und waren so Angesprochene der Parolen, ohne darauf antworten oder handeln zu können. Damit fühlten wir uns hilflos und wütend. Nur unsere Kameras gaben uns in dieser Situation die Möglichkeit, die Forderungen der Protestierenden aufzuzeichnen und zu veröffentlichen.

Gleichzeitig wären wir gern Teil des Protests auf der anderen Seite des Zauns gewesen. Auch wir sind der Meinung, Kroatien sollte die Grenzen öffnen, auch wir sprechen uns gegen Grenzen aus, gegen die unmenschliche Behandlung, gegen Push-backs und für eine Möglichkeit, eine Perspektive für die Zukunft zu haben. Außerdem hat uns die Verbundenheit der Menschen, die sich über Nationalitäten und Ethnien hinweg gemeinsam als Refugees und als Syrer*innen, Afghan*innen, Kurd*innen, Iraker*innen positioniert haben, sehr beeindruckt.

Dieser starke Protest mit einer klaren politischen Botschaft wurde in der Situation nur von uns und wenigen anderen gehört. Auch die nächtlichen Push-backs werden von der Öffentlichkeit unbemerkt durchgeführt. Daher erscheint es uns umso wichtiger, diese unmenschlichen Vorgänge öffentlich zu machen.

Die Gleichgültigkeit, mit der die serbischen Beamt*innen das Geschehen beobachteten, verdeutlicht einerseits eine gefährliche Distanz zum Erleben der betroffenen Menschen und ein Absprechen des Mensch-seins der einzelnen Personen, was sich auch in der Gewaltbereitschaft auf Seiten der serbischen Polizei zeigt. Andererseits spiegelt es auch das fehlende politische Verantwortungsgefühl wider, da jeder Staat auf der Balkanroute den nächsten für verantwortlich erklärt. Diese Verantwortungsdiffusion führt dazu, dass sich jeder Staat auf Basis der Regelungen der Nachbarstaaten weiter abschotten kann, wie es zum Beispiel durch die Tagesquote von 580 Menschen, die durch Österreich eingeführt wurde und mittlerweile bis nach Mazedonien gilt, geschehen ist. An immer mehr Stellen sitzen Menschen fest, ohne Perspektive darauf, ihren Weg fortsetzen zu können, in der ständigen Angst vor Polizeigewalt und Push-backs.