Erfahrungsbericht von den Balkangrenzen (Oktober 2015)

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Wir, 3 Aktivist_innen aus Kiel, Osnabrück und Bremen, waren im Oktober für 2 Wochen auf dem Balkan unterwegs um Geflüchtete zu unterstützen auf ihrem Weg nach Europa. Dabei waren wir an 3 verschiedenen Orten, in Presevo, an der mazedonisch-serbischen Grenze, in Dimitrovgrad, an der bulgarisch-serbischen Grenze und in Berkasovo, an der serbisch-kroatischen Grenze. Unsere Erfahrungen, Eindrücke und einige Geschichten Geflüchteter möchten wir im Folgenden schildern:

Wir sind Donnerstag, den 8. Oktober, in Osnabrück losgefahren und nach ca 24 Stunden Autofahrt in Presevo an der Grenze von Serbien zu Mazedonien angekommen. Unser Van war vollgepackt mit Essen, Kocher, Decken, Zelten, Jacken etc. und wir haben riesiges Glück gehabt, dass wir überhaupt nach Serbien gelassen wurden, da Hilfsgütertranporten und humanitärer Hilfe generell meist die Einreise verwehrt wird. Ein absurdes politisches Spiel. Nur dadurch, dass wir inszeniert haben zu einem Technofestival in Thessaloniki zu fahren, konnten wir passieren.

++Triggerwarnung: Beschreibung schlimmer Zustände. Lest, wenn ihr es verkraften könnt.++

Presevo

Die Stadt Presevo liegt im Süden Serbiens direkt an der mazedonischen Grenze.
Es kommen jeden Tag bis zu 10 000 Menschen mit dem Zug im mazedonischen Tobanovce an, laufen von dort einen schlammigen, nassen Weg ca. zwei Kilometer über die Grenze ins serbische Miratovac, um von dann dort mit dem Bus nach Presevo gefahren zu werden. Fast alle kommen mit nassen Füßen in Presevo an. Hier wird noch immer versucht, trotz einiger unbestätigter Festnahmen der Mafiataxifahrer, die Ankommenden mit überteuerten Taxifahrten oder SIM-Karten abzuzocken. Es gab mittlerweile einen Infopoint und eine Küche, an denen in verschiedenen Sprachen Warnungen über die Taxifahrer_innen gegeben wird und auch über die Prozedur im Registrierungscamp. Hier müssen sie sich registrieren lassen um sich legal für 72 Stunden in Serbien aufhalten und mit Bussen bis nach Sid an der kroatischen Greze durchreisen zu dürfen. Im Camp arbeiten neben dem UNHCR und dem Roten Kreuz auch noch die Organisation SOS Remar, die allerdings nachts ihre Arbeit einstellen.

Direkt nach unserer Ankunft haben wir mit weiteren selbstorganisierten Freiwilligen begonnen die hunderten Menschen in der Schlange vor dem Registrierungszentrum mit Tee, Essen und Decken zu versorgen. Diese mussten oft viele Stunden bis 2 Tage lang, eingepfercht in Gittern und bewacht von teilweise aggressiver serbischer Polizei, in der Reihe warten, ohne Versorgung durch UNHCR etc. Wenn sie die Reihe verließen, z.B. weil sie aufs Klo mussten, mussten sie sich wieder hinten anstellen. Wir haben in unzähligen Einzelgesprächen und Diskussionen mit Polizist_innen versucht alte und kranke Menschen, Menschen mit Behinderung, Familien mit kleinen Kindern und Babies aus der Reihe herauszuholen und als erste in das Camp zur Registrierung zu bringen. Die Polizist_innen entschieden dabei völlig willkürlich. Die Registrierung verlief unglaublich langsam, war nachts zeitweise sogar geschlossen, unglaublich zumal zu jeder Tageszeit Menschen ankamen und in der Nacht die Not am größten war. Es war ein unglaubliches Gedränge, z.T. kurz vor einer Massenpanik. Die Polizei prügelte teilweise mit Schlagstöcken auf die wartenden Menschen ein.
Auf dem Vorplatz des Camps, wo die Menschen von der Registrierung kamen und sie zu den Bussen gingen, haben wir eine Küche aufgebaut, wo die Menschen sich aufwärmen und Essen holen konnten. Wir haben für hunderte von Euros aus Spendengeldern Essen und Trinken besorgt, sowie Rettungsdecken, Planen, Regencapes, Socken etc. und jeden Tag tausende Menschen versorgt.
Die erste Nacht war der Horror. Es hat in Stroemen geregnet, die Abwasserkanäle waren verstopft und die Strasse war ein Fluss. Wir standen teilweise bis kurz unters Knie im Wasser, der ganze Müll schwamm umher, alle waren nass, unterkühlt, hungrig und erschöpft. Kinder schrien kaum noch, weil sie nur noch apathisch waren, die Menschen haben versucht unter provisorischen Unterständen, in verlassenen Läden oder verfallenen Gebäuden Schutz zu suchen.
Wir haben eine Familie getroffen. Die Mutter war klitschnass, hatte nur ein dünnes Tshirt an, hochschwanger und hatte ihr Baby umgeschnallt. Der Vater und die anderen beiden Kinder, auch völlig fertig und ausdruckslos. Wir konnten ihnen ein Zelt zum Ausruhen geben. Wir haben den Säugling zum Zelt getragen, weil die Mutter es nicht mehr konnte, wir mussten sie stützen. Durch eine tiefe überschwemmte Wiese haben sie sich dorthin geschleppt. Zum Glück konnten wir ein paar Decken und Bananen auftreiben. Alle waren am Zittern und haben kaum noch ein Wort gesprochen.
Direkt danach haben wir ein Zelt auf der Strasse gesehen, dass schon völlig unter Wasser stand und wollten schauen ob dort Menschen drin schlafen. Als wir das Zelt aufgemacht haben, waren dort 4 Kinder, die älteste, vielleicht 7 Jahre alt, der Jüngste eineinhalb oder so. Sie waren allein ohne Eltern. Wir konnten aus den paar Wörtern Englisch der Ältesten nur verstehen, dass die Eltern gegangen waren ohne zu erfahren wohin. Mit zwei anderen haben wir die Kinder da rausgeholt und zum Arztzelt getragen. Der Kleine auf meinem Arm war bis auf ein Tshirt komplett nackt und hat so gezittert, wie ich es noch nie gesehen habe. Ich konnte ihn nur durch ganz festes Anmichdruecken etwas auffwärmen. Alle Kinder waren total apathisch und abwesend. Wir haben den Namen der Mutter rausgefunden und wollten Decken organisieren um die Kinder zu wärmen, dann hat die Polizeichefin uns verboten auf das Camp zu gehen und wir konnten beides nicht machen. Wir sind in der Nähe des Zeltes geblieben um zu schauen, ob die Eltern zurückkommen um die Kinder zu holen und dann kamen sie. Die Mutter war super panisch als sie das leere Zelt gesehen hat, sie wollten sich registrieren und die Kinder später abholen. Aber die Familie hat sich zum Glück wiedergefunden.
Mindestens eine Mutter hat in dieser Nacht ihr ungeborenes Baby verloren, vielleicht weil sie einfach nicht mehr konnte.
UNHCR und Rotes Kreuz liessen sich nach wie vor kaum blicken, es gab nachts, wenn es am Nötigsten gebraucht wurde immer noch nur ein bis zwei Ärzt_innen. Für die wartenden Menschen gab es keine Sitzgelegenheiten und in den kalten Morgenstunden kollabierten die Menschen reihenweise vor Kälte, Erschöpfung und Verzweiflung, wegen Krankheiten, Alter oder Schwangerschaft. Es war nachts so schwer auszuhalten! In den teilweise sehr kalten Nächten haben wir die Menschen soweit es ging mit Decken und heißem Tee versorgt, wobei wir für jede einzelne Decke beim UNHCR im Camp fragen mussten, der sehr sparsam damit war und zeitweise auch gar nicht anzutreffen war. Der UNHCR bunkert die Decken und traute sich tagsüber nur ohne Weste aus dem Camp, „weil sie Angst haben von Anwohner_innen verprügelt zu werden“.
Für Mütter und Kinder haben Freiwillige eine Unterkunft organisiert, in der es 10 Betten, trockene Kleider und Waschmöglichkeit gibt.
Zwischendurch ist das Militaer mit Maschinengewehren aufgetaucht, mitten auf dem Platz. Sie haben nichts getan, ausser Macht zu demonstrieren und die Menschen einzuschüchtern, dann sind sie wieder gefahren. An einem Tag kam der Verteidigungsminister Serbiens zu Besuch. Auf einmal war alles aufgeräumt und sauber auf dem Platz, überall standen gepanzerte Fahrzeuge und Soldaten mit Maschinengewehren, auch direkt vor unserem Küchenzelt und vor den Geflüchteten. Zur Schlange mit den Menschen, die die ganze Nacht schon dort gewartet haben, ist er nicht gegangen.
Die Infrastruktur hat sich immer mehr ausgebaut, viele neue Volunteers sind gekommen und es gab mittlerweile eine 24 Stunden kochende Küche, die sowohl die wartenden Menschen in der Kälte versorgt, als auch diejenigen die nach der Registrierung aus dem Camp kommen und auf die Busse warteten. Wir drei machten nur noch nachts Schicht, weil tagsüber sehr viele Menschen und mehrere NGOs da waren und auch von anderen teilweise Essen verteilt wurde, wohingegen sämtliche NGOs und fast alle Volunteers nachts geschlafen haben. Wir kochten den ganzen Tag und die ganze Nacht durch und haben teilweise in 24h Stunden 2000 Euro (!) verkocht. Wir gaben Essen und Chai in die Schlange und konnten ein paar Worte mit den Menschen wechseln. Dann kümmerten wir uns um Notfälle, verteilten Decken, Kleidung (vor allem Jacken, Socken, Schuhe, weil die Menschen durch Schlammseen waten müssen). Die Verteilung lief vor allem übers Küchenzelt, weil viele der anderen Volunteers ähnlich wie die NGOs träge und inkompetent handelten und es noch keine Ausgabestelle für Kleiderspenden gab.
Die Menschen saßen und standen stundenlang uninformiert zwischen den vermüllten umgitterten Zugängen zum Camp. Die Trink- und Essensversorgung sowie auch die Verteilung von Klamotten und Decken lagen fast komplett bei uns. Es ist der kranke Wahnsinn! Wir finanzierten und versorgtenTag und Nacht mit einer selbstorganisierten Küchencrew und Spendengeldern tausende Menschen, arbeiteten die Nächte durch, haben kaum geschlafen und sind mit den vielen Menschen und den Mengen an Essen manchmal nicht hinterher gekommen. Die Menschen sind meistens super hungrig und ausgekühlt aus dem Camp gekommen und wir fragen uns, was die ganzen NGOs dort mit den Leuten gemacht haben! Wenn überhaupt haben Frauen und Kinder Essen bekommen, Männer kamen super hungrig aus dem Camp. Die Situation ist, wie an den anderen Grenzen und Camps auch, unglaublich entwürdigend und menschenverachtend. Die Leute werden wie Tiere von einem Gitterblock in den nächsten getrieben und dürfen das Gitter nur in seltensten Ausnahmen zum Pinkeln verlassen.
Es gibt auf diesem ganzen „Balkantrip“ einfach so gut wie keine Möglichkeit in einem trockenen warmen Raum zu schlafen, geschwiegedenn sich zu waschen oder sich einfach mal auszuruhen. Es ist auch einfach heftig zu sehen, dass Leute in diesem unmenschlichen Chaos versuchen, eine provisorische „Normalität“ aufrecht zu erhalten, sich einen Keks zum Tee aus dem Rucksack holen, im Autospiegel das Aussehen Überprüfen oder ihre Schuhe saubermachen. Das führt einem vor Augen, dass in jedem einzelnen Menschen eine kleine Katasptrophe vor sich geht und was jede_r einzelne entbehren muss.

Die Volunteers haben sich in Selbstorganisierte und autoritätenhörige Leute gespalten, wobei letztere darauf bestanden, dass sich jeder Volunteer im Youth Office registrieren muss, bei der neu gegründeten NGO „United Voluteers Presevo“ (UVP), die sich viel mit dem Drucken von Ausweisen und Westen für eine bescheuerte neue NGO beschäftigt haben und nachts schlafen gegangen sind, wenn Hilfe am dringendsten gebraucht wurde.

Dimitrovgrad

Dimitrovgrad ist ein kleiner Ort an der serbisch-bulgarischen Grenze. Hier kommen Menschen zu Fuß über die grüne Grenze bzw die Berge nach Serbien. Täglich kommen 200 bis 500 Menschen hier an. Es gibt ein kleines Registrierungscamp, in dem allerdings momentan keine Versorgung mehr durch UNHCR bzw Rotes Kreuz stattfindet. Von hier fahren Busse und Züge nach Belgrad.
Wir sind am Freitag, den 16.10.2015, von Presevo nach Dimitrovgrad gefahren. Im Gepäck hatten wir eine komplette Küche, die wir in der Nacht zusammen mit anderen selbstorganiserten Freiwilligen aufbauten:RevolutionaryIndependentRefugee*Kitchen (RIRK*). Zwei Pavillions – einer als Kochzelt mit Gaskocher etc., der andere als Aufenthaltsort und Wärmezelt mit einem Heizstrahler. Außerdem haben wir Socken und vereinzelt Decken verteilt.
Die Gesamtsituation in Dimitrovgrad war derzeitig angespannt, unberechenbar und beängstigend. Es waren weitaus zu wenig Freiwillige vor Ort, um die neue Versorgung der Ankommenden sowie die Infrastruktur der Tee- und Suppenküche aufrechtzuerhalten. Das Rote Kreuz zeigte nur rare Präsenz im Registrierungscamp, indem es in den „Öffnungszeiten“ von 10 bis 15 Uhr Snacks, jedoch weder Decken noch Medikamente bereitstellte. Medizinische Versorgung gab es keine.
Viele Menschen mussten bis zu 24 Stunden ausharren, bis der Bus losfuhr, um sie nach Belgrad und von dor weiter an die serbisch-kroatische Grenze bei Sid zu bringen.

Mafiös organisierte Locals, die mit dem Busfahrerbusiness in Verbindung standen, bedrohten uns wegen im Küchenzelt angebrachten verschiedensprachigen Informationen (arabisch, englisch, farsi, kurdisch) über z.B. unterschiedliche Reisemöglichkeiten (Bus/Zug) oder Tretminenwarnungen. Begründungen dafür waren unter anderem die Unsicherheit über die Bedeutung der unbekannten Schriftzeichen sowie die Konkurrenz des billigeren Zuges verglichen zum Buspreis. Um uns einzuschüchtern, gaben sie sich als Detektive aus.
Sie begannen unsere Informationspapiere abzureißen. Als wir uns dagegenstellten, hielten plötzlich fünf Autos vor dem Küchenzelt und wir wurden umringt von acht Männern, die uns bedrohten. Die im Camp stationierte Polizei weigerte sich einzugreifen und so mussten wir aus Selbstschutz und für die Sicherheit der Refugees die Informationen abnehmen. Ab dem Zeitpunkt wurden wir regelmäßig von diesen Männern beobachtet.
Am gleichen Abend erzählten uns mehrere Refugees, die aus der Registrierung kamen, dass die Grenzpolizist*innen ihnen 10 euro für das Registrierungspapier abnahmen – das ist illegal! Als wir den Polizeichef am darauffolgenden Morgen damit konfrontierten, tat er überrascht und meinte, er wolle es mit seinem Personal bereden. Zumindest wusste er nun, dass wir es wussten.
Auch in Dimitrovgrad war die Polizei repressiv und forderte Erlaubnispapiere für unser Küchenzelt. Der Strom für einen Heizstrahler, den wir in der ersten Nacht vom benachbarten Kioskbesitzer bekamen, wurde uns dann abgedreht – auf Aufforderung der Polizei.

Wir haben u.A. am 17.10. eine 17-köpfige kurdische Gruppe auf der Flucht aus dem Irak nach Deutschland getroffen und mit ihnen ausführlich gesprochen. Sie berichteten uns von den unfassbar menschenverachtenden Zuständen für Fliehende in Bulgarien und dem kriminellen, gewaltvollen und repressiven Verhalten der bulgarischen Polizei. Sie haben uns gebeten, ihren folgenden von uns festgehaltenen Erlebnisbericht zu veröffentlichen.

Zur Information: Bulgarien ist Mitglied der Europäischen Union und noch immer werden Menschen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung dorthin abgeschoben, wo sie jenseits jeglicher Menschenrechte misshandelt und gedemütigt werden.

„Wir sind eine Gruppe von 17 Personen, Frauen, Männer, Kinder, und kommen aus dem Irak. Von dort sind wir erst einmal in die Türkei geflüchtet. Von dort waren wir zwei Tage zu Fuß unterwegs bis nach Bulgarien. Es hat geregnet und wir haben gelitten.

Bulgarien war eine der schlimmsten Erfahrungen, die wir jemals gemacht haben.

Die bulgarische Polizei hat uns wegen illegalem Grenzübertritt 17 Tage lang in den Knast in Sofia gesteckt. Die ganze Gruppe: es waren sechs Kinder dabei – das jüngste sieben Tage alt!
Wir haben vier Tage lang kein Wasser und kein Essen bekommen. Wir durften nicht auf die Toilette gehen, sondern mussten in Flaschen pinkeln. Die Polizisten haben uns geschlagen und uns ausgeraubt. Alles wurde uns abgezogen: Handy, Fotos, Geld.
Wir wurden gezwungen, auf dem Knastgelände Müll zu sammeln. Bevor wir rausgelassen wurden, wurden alle Erwachsenen geschlagen und Kinder geschupst. Eine Polizistin hat die Frauen geschlagen.
Alle Männer mussten sich nackt aufstellen, dann wurden wir mit Stöcken geschlagen und durch einen Schlauch mit kaltem Wasser abgespritzt. Die Polizisten haben Hunde an die lange Leine genommen und mit ihrer Macht gespielt. Sie wollten uns einschüchtern.

Taxis haben uns vom Knast abgeholt und uns irgendwo für zwei Tage in einem Raum abgestellt bevor wir mit 26 Menschen in einem Van weiter an die serbische Grenze gefahren wurden.
Vor der Grenze wurden wir rausgelassen. Sieben Stunden sind wir über die grüne Grenze gelaufen, bis nach Dimitrovgrad. Wir waren erschöpft, aber erleichtert als Serbien in Sicht war.

In Dimitrovgrad haben wir uns der serbischen Polizei gestellt. Wir haben uns hier registriert um dann weiter Richtung Kroatien reisen zu können.
Hier in Dimitrovgrad haben wir nette Menschen getroffen, Freiwillige, die für uns Tee gekocht haben und denen wir sehr dankbar sind.

Wir alle werden die Erlebnisse in Bulgarien niemals vergessen!“

Der vorliegende Bericht ist lediglich ein Einzelbeispiel solcher Vorkommnisse. Wir haben über mehrere Tage mit vielen Menschen gesprochen, die aus Bulgarien in Dimitrovgrad ankamen. Nahezu ausnahmslos berichteten Menschen von Demütigungen, Folterungen, gewaltvollen Inhaftierungen und Ausraubungen durch bulgarische Polizeibeamt_innen.

Die Mehrheit der in Dimitrovgrad ankommenden Fliehenden, musste tagelang durch die Wälder und Berge laufen und rennen, um die grüne Grenze zu passieren. Dabei kam es zu vielen Verletzungen, Knochenbrüchen, Unterernährung und kompletter Erschöpfung. Unzählige kamen stark verletzt in dem Registrierungscamp Dimitrovgrad an, einige mit Schusswunden.

Am 16.10.2015 wurde ein fliehender Mensch von der bulgarischen Grenzpolizei erschossen (vgl. http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-10/fluechtlingskrise-grenzschutz-bulgarien ).
Uns wurde von mehreren Gruppen unabhängig voneinander von mindestens drei weiteren Leichen entlang der Fluchtroute in den Grenzwäldern zwischen der Türkei und Bulgarien und zwischen Bulgarien und Serbien in der Nähe von Dimitrovgrad berichtet.

Viele Geflüchtete die ihren Fingerabdruck in Bulgarien abgeben mussten äußerten große Ängste von der Bundesregierung Deutschland im Rahmen der Dublin-III-Verordnung wieder nach Bulgarien abgeschoben zu werden.

Am Sonntag, den 18. Oktober fuhren wir weiter nach Berkasovo. Die Kücheninfrastruktur ließen wir in Dimitrovgrad und übergaben sie anderen Freiwilligen.

Berkasovo

Berkasovo liegt im Westen von Serbien bei Sid und ist ein kleiner Grenzübergang nach Kroatien. Hier führt eine einspurige Straße durch Felder von Serbien nach Kroatien. Es gibt vier Zelte sowie eine selbstorganisierte Küche und Kleiderspendenausgabe. UNHCR und Rotes Kreuz sind so gut wie gar nicht präsent, außer, dass sie den Freiwilligen die Essensausgabe verbieten. Teilweise fahren von dort Busse nach Opatovac – ein Registrierungcamp vom Militär in Kroatien.

Als wir mitten in der Nacht ankamen regnete es in Strömen. Außer den vier Zelten gab es keinen Regenschutz, die Menschen bauten sich provisorische Unterstände oder bekamen einen der wenigen Regenponchos oder mussten einfach im Regen stehen. Die Freiwilligen versuchten die Weiterreise der Refugees so gut wie möglich zu organisieren doch dadurch dass die kroatische Polizei die Grenze geschlossen hatte und vom Roten Kreuz alle Menschen auf einmal auf der serbischen Seite aus den Bussen geschickt wurden, entstand sehr schnell Chaos. Viele Menschen drängten auf die Grenze zu und wir versuchten ihnen zu erklären dass in den Zelten kein Platz mehr sei, dort Familien schliefen und die Grenze gerade geschlossen sei. 2000 bis 3000 Menschen sammelten sich vor der Grenze die von kroatischen Polizist_innen abgeriegelt wurde. Die Polizei schrie die Menschen an, sich hinzusetzen und riss ab und zu willkürlich einzelne Personen raus und ließ sie durch die Grenze – in 14 Stunden ganze 50 Menschen. Dass Familien bei solchen willkürlich-hektischen Aktionen auseinandergerissen werden, wird von den Beamt_innen dabei einfach in Kauf genommen.

Während das gesamte Gelände im Schlamm und Müll versank, wurden die immer mehr werdenden Menschen unruhiger. Viele Neuankommende gingen an der wartenden Masse vorbei und versuchten als logische Kosequenz der Verzweiflung über die Felder nach Kroatien zu gelangen.
Die gesamte Situation wurde immer angespannter, die Menschen riefen „open, open!“ und von hinten wurde gepusht. Inmitten der Menge waren viele alte, weniger mobile menschen, Schwangere und Kinder. Innerhalb der Masse fing eine Schlägerei an. Die Polizei schlägt mit Schlagstöcken und Fäusten in die Menge, um einen fast erfolgreichen Durchbruch zu stoppen. Viele Menschen haben geschrien und wurden panisch. Einige wurden von den Polizist_innen vorne aus der Menschenmasse herausgerissen und an der Seite wieder reingestoßen.

Irgendwann baute die Polizei Gitter zwischen sich und die wartenden Menschen, schlugen jedoch auch hier durch.

Diejenigen, die versuchten, über die Felder die Grenze zu überqueren, wurden mit Gewalt davon abgehalten.
Eine entwürdigendere Szenerie als diese vieler Menschen, die zwischen stinkenden Müllbergen, im tiefen Schlamm und Dauerregen ihre Kinder versorgten oder einfach versuchten einen Ort zum Schlafen und Ausruhen zu finden, kann mensch sich kaum vorstellen.

Immer wieder hörten wir Menschen rufen „Wo ist hier die Menschlichkeit?!“

Am Nachmittag des folgenden Tages fuhren wir zum militärischen Registrierungscamp Opatovac (Kroatien), um von dort Decken, Zelte, Schlafsäcke etc. abzuholen und nach Berkasovo zu fahren. Mit dem vollgepackten Van hatten wir wieder einmal massive Probleme über die serbische Grenze zu kommen, da die Anweisung der Grenzbeamt_innen ist, keine humanitäre Hilfe ins Land zu lassen.
Auch die Polizist_innen in Berkasovo ließen uns erst nach langer Diskussion mit den Sachen im Auto zum Camp fahren.

Am frühen Abend machten wir uns wieder auf den Weg Richtung Deutschland. Über Ljubljana, wo wir bei zwei slowenischen Aktivistinnen schliefen und uns über Erlebtes austauschten.

Nun sind wir seit einigen Tagen wieder in Deutschland. Es ist uns schwergefallen die Menschen an den Grenzen zu verlassen, während die Gesamtsituation sich zuspitzt und gerade mit den extremer werdenen Wetterbedingungen und repressiveren „Grenzschutz“-maßnahmen immer härter wird.
Wenn Menschen sich einfach ganz normal ein Ticket für Fähre oder Flugzeug kaufen könnten, wäre die ganze Reise eine sichere. Es müssten nicht hunderte Menschen unterwegs von Polizist_innen und kriminellen Banden ausgeraubt, abgezogen, eingeknastet und misshandelt werden, tagelang in schlimmsten hygienischen Zuständen und Witterungen ausharren oder im Mittelmeer sterben. Die Verantwortung liegt bei der Europäischen Union und ihrer abartigen Machtausspielung! Diese aktuellen katastrophal unmenschlichen Bedingungen könnten von einem auf den nächsten Tag geändert werden. Es ist ein politisches Kalkül!

Wir bleiben vernetzt und planen gerade zusammen mit vielen weiteren Menschen eine Unterstützungsplattform aufzubauen, um auch in nächster Zeit weiterhin aktive Fluchthilfe zu leisten.
Neben den unzähligen schrecklichen Erlebnissen an den Balkangrenzen, sind wir auch dankbar für die vielen besonderen Begegnungen mit Refugees und für die Geschichten, die wir hören durften. Wir sind mit einigen Menschen noch immer in Kontakt und bekommen immer wieder Anrufe von Menschen, die in Deutschland angekommen sind.

Wir rufen alle Menschen dazu auf, sich zu informieren und wenn ihr wollt*könnt zu unterstützen. Jede Hilfe ist gut, richtig und wichtig!

Flucht entkriminalisieren und praktische Solidarität zeigen!

Shame on You, Europe!

Freedom of Movement is everybody’s Right!

Solidarity with All Refugees Everywhere NOW!